Hochwachtturm
100 Jahre Hochwachtturm
1911-2011
Annäherung
Ich laufe von Langenthal auf die Hochwacht, die bewaldete Hügelkuppe mit dem Aussichtsturm mitten im Oberaargau. Dieser Turm ist mir von Kindsbeinen an vertraut. Meine Mutter ist etwas unterhalb, im Reisiswiler „Bintli“[1] aufgewachsen, und mein Großvater war lange Wirt auf der Hochwacht. Als Kinder waren wir Sonntag für Sonntag zu diesem Turm unterwegs. Es war unser Sonntagsspaziergang. Oben auf dem Platz unter dem Turm herrschte in den Sommermonaten stets Betrieb. Jodler sangen, eine Musikgesellschaft spielte auf, Ländlermusikformationen luden zum Tanz und die Mutter schwatzte mit ihren Schulkameraden und Kameradinnen während wir Kinder gefährliche Rennen auf den 22 Meter hohen Turm veranstalteten.
In der Zwischenzeit ist meine Mutter 90-jährig geworden und feiert den Geburtstag am Ort ihrer Geburt und ich laufe zum Fest. Früher war der Weg auf die Hochwacht die Strecke für mein Lauftraining. Heute bin ich gemütlicher unterwegs als damals. Ich geniesse die Landschaft der Wässermatten zwischen Langenthal und Lotzwil und nehme den Bauern wahr, der nach jahrhundertealter Tradition an der Langeten die Schleusen öffnet. Ich sehe, wie sich das fruchtbringende Wasser über die Matten verteilt und genieße das Glitzern der Strahlen der Junisonne im Wasser, das sich durch das liebevoll angelegte Geflecht von Kanälen durch die Gegend schlängelt. Auf dem „Skulpturenweg“ grüssen Peter Hosners geschnitzte Geister und Märchenfiguren und beim Aufstieg auf den Rappenkopf werden meine Beine schwer. Oben, beim Grenzstein treffen die Gemeinden von Lotzwil, Busswil und Madiswil zusammen und auf dem anschließenden Höheweg fällt der Blick hinüber ins Luzerner Hinterland, das schon oberhalb Melchnau beginnt. Der mächtige Berghof, eins Klosterhof von St. Urban, steht am Horizont. Der Weg führt gegen Rüppiswil hinunter, zu dem Weiler unterhalb des kleinen Paßüberganges, welcher das Tal der Langete mit dem Tal der Rot verbindet. Beim Aufstieg hinauf auf die Ghürnhöhe, möchte ich marschieren – doch der Ehrgeiz verbietet es. Von der Höhe sehe ich die behäbigen und schönen Höfe im Ghürn. Hier soll Adelheid von Hurun gewohnt haben, eine Schwester der Langenstein-Brüder, die 1194 mit ihrer Schenkung die Gründung des Kloster St. Urban ermöglichten. Schweigsam und zurückhaltend sind hier die Leute. Doch wenn sie vertrauten Menschen begegnen öffnen sie sich und sind neugierig, das Neueste zu vernehmen, um es daheim am Tisch zu verhandeln. Sie grüssen freundlich, und winken, wenn sie mich- nun schon mit kleinen Schritten- das Hürn, den letzten Abschnitt zur Hochwacht hinaufträppelen sehen. Früher, als ihr Pfarrer teilte ich mit ihnen manchen Schicksalsschlag. Das schaffte eine selbstverständliche Vertrautheit. Eine Vertrautheit, die Fremde beim Oberaargauer zuweilen vermissen.
Oben auf dem Turm
Endlich erreiche ich die Hügelkuppe. Bevor ich mich frisch mache zum Fest geht es noch über die 100 Stufen auf den Turm. Oben auf der Plattform wartet die Entschädigung für den langen Lauf. Eindrücklich hat Valentin Binggeli in seinem Geographiebuch das Landschaftsbild beschrieben, welches sich an diesem schönen Sommertag dem staunenden Auge zeigt:
„Aus Waldwinkeln und Baumgärten lugen die mütterlichen Dachschilde einzelner Höfe und Weiler im kurzweiligen Auf und Ab der runden Wanderhügel. Auf und ab schwingen sich ebenfalls die talsäumenden Wälder, immer jedoch treu die Felder und Aecker des Tales zu umhegen. Aus dem Hangwald blicken gelb und grau die Sandsteinflühe. In Moränenmulden träumen die Wasseraugen der Seen und Weiher von eiszeitlichen Kinderjahren. Hie und da ist ein Findling dem Zugriff von Menschenhand entgangen, vielleicht von einem guten Geist der Landschaft davor gerettet worden. Auf der Hügelkuppe grüßt ein riesig runder Lindenbaum oder eine lichtgrüne Eiche, über Haus und Hof wacht der hohe Sarbaum, die Pappel: Gestalten der Stille, würdig und weise in ihrem Jahrhunderterleben über Land und Menschen, dennoch aber im Frühlingssausen gar nicht abgeneigt, einem stürmischen Tanz im schwellenden, triebgrünen Kleide. Wohnliche Dörfer reihen sich in lieblichen Tälern durch die der Bach seinen verbindenden Silberlauf zeiht. Zwischen Busch und Baumgefolge blitzen seine Wassergewinde auf in den begleitenden Graben und Gräblein. Von alters her ist der Fluß die Schlagader des Tals gewesen, dessen Wasserkraft früher zahlreiche Sägen und Mühlen und weiteren Gewerbe sich zunutze machten.“[2]
Wer so schreibt, liebt die Landschaft, die er beschreibt. Er ist mit ihr verbunden, mit ihr verwachsen. Das waren auch Nationalrat August Rikli[3] und Baumeister Hector Egger[4], die beiden Männer, denen wir es verdanken, dass der Hochwachtturm noch heute Menschen anzieht und wir vom Hochwachtturm aus diese Verbundenheit mit unserer Landschaft und den Menschen, die in ihr leben, spüren dürfen.
Die Entstehung des Hochwachturms
August Rikli (1864-1933) war erster Direktor des Langenthaler Spitals, erster sozialdemokratischer Nationalrat aus der Berner Landschaft, Oberfeldarzt der Armee und Präsident der Langenthaler Verkehrskommission. Der vielseitig begabte und engagierte Langenthaler Arzt setzte sich als Grütlianer besonders für die Gesundheit des Volkes und der Umwelt ein. Ihm war es ein Anliegen, dass sich die Bevölkerung, die während der Woche hart arbeiten musste, an den Wochenenden erholen konnte. Besonders die Arbeiter aus den sich um die Jahrhundertwende in Langenthal entwickelnden Industriebetrieben. Als Vorsitzender der Langenthaler Verkehrskommission schlug Rikli deshalb seinen Mitgliedern vor, in der Umgebung von Langenthal ein Wanderwegnetz einzurichten dessen einzelne Wege sich an einem besondern Ausflugziel treffen sollten. Dieses Ziel sollte die Hochwacht sein. Der Hügel zwischen Langete und Rot war bereits als Aussichtspunkt bekannt und hatte in altbernischer Zeit als Ort für die „Chutzensignale“ gedient.[5] Zudem stand dort seit 1886 auf dem höchsten Punkt ein kleiner, einem Jägerhochsitz ähnelnder 15 Meter hoher Holzturm.
Rikli fragte Baumeister Hector Egger, seinen Nachbarn auf dem Hinterberg,[6] ob es möglich sei, diesen kleinen Holzturm durch einen Turm aus armiertem Beton zu ersetzten. Er startete die Anfrage, nachdem er als Nationalrat in Bern vernommen hatte, dass die Schweizerische Landestopographie auf der Hochwacht wegen Vermessungen ein Höhensignal einrichten möchte. Nach der positiven Antwort Eggers, des studierten Architekten und Statikers der eben die familieneigene Firma übernommen hatte, gelangte Rikli an die Oeffentlichkeit. Er orientierte mit einem Flugblatt am 10. März 1911 die Oberaargauer Bevölkerung und lud auf den 14. März zu einer öffentlichen Versammlung in den Bären nach Langenthal ein.[7] An dieser Versammlung hielt Rikli selbst ein orientierendes Referat. Er erinnerte an die Gründung des Verbandes der Verkehrsvereine im Oberaargau und Emmental, der den Fremdenverkehr im Oberaargau zu fördern bezweckt.[8] Das nicht zuletzt durch das Einrichten von besonderen Sehenswürdigkeiten. Zudem sah Rikli im Neubau des Hochwachtturmes ein wichtiges Werk für die Volksgesundheit. Das Wandern zu dieser „bedeutenden Sehenswürdigkeit“ fördere Körper und Geist. Rikli stieß bei den Behörden, bei Einwohnergemeinden und Burgergemeinden, aber auch bei der Lehrerschaft und dem Alpenclub auf ein reges Interesse. Der Besitzer des Bodens auf der Hochwacht, der Wirt des Restaurant Traube, Fritz Maurer, war bereit, den benötigten Boden für den Turmbau gratis abzutreten. Bereits am 19. Juli 1911 wurde der „Vertrag betreffend die Errichtung und den Unterhalt des Aussichtsturmes, zugleich trigonometrische Station auf der Hochwacht, Ghürn, Gemeinde Reisiswil“ abgeschlossen.[9] Den Vertrag unterzeichneten die Abteilung für Landestopographie des Militärdepartementes, die Verkehrskommission Langenthal und der Wirt Fritz Maurer. Das EMD steuerte Fr. 3000.— bei, lieferte die Pläne und übernahm die Bauführung. Die Langenthaler Behörde zahlte den Rest der Baukosten, half bei der Bestimmung des Bauunternehmers mit und koordinierte die mit dem Wirt abgesprochenen Naturalleistungen der Reisiswiler Bauern (Fuhrungen, Lagerung etc.). Bereits am gleichen Tag wurden die Arbeiten vergeben: Den Zuschlag erhielt, wie nicht anders zu erwarten, Bauunternehmer Hector Egger. Rikli begründete seine Wahl gegenüber dem EMD mit dessen großen Erfahrungen im Bauen mit armiertem Beton. Ein Orientierungsschreiben an die Gemeinden zwei Tage nach Vertragsabschluss lässt vermuten, dass namentlich der Gemeinderat von Langenthal dem raschen Vorgehen der Verkehrskommission nur nach einigem Zögern zugestimmt hatte. Es gab Diskussionen über die Unterhaltung des Bauwerkes, über die Eigentumsverhältnisse und möglicherweise auch über die schnelle Vergabe.[10] Der Langenthaler Gemeinderat verlangte, dass der Turm nach dessen Abnahme in das Eigentum der Gemeinde Langenthal überzugehen habe. Der „Oberaargauer“ berichtete über den Vertragsabschluss in seiner Ausgabe vom Dienstag, den 25. Juli 1911 auf der Frontseite. Der Korrespondent erwähnt, dass die Bauleitung einem Ingenieur Lanz von der Schweizerischen Landestopographie übertragen worden war. Herausgestrichen wird auch das grosse Interesse am Turmbau seitens der regionalen Verkehrsbetriebe, namentlich der Langenthal-Huttwil-Bahn. Dessen Verwaltungsrat unterstütze den Bau mit einem grosszügigen Betrag. Der Korrespondent zeigt sich überzeugt, dass damit die Hochwacht zu „einem der besuchtesten Punkte im Oberaargau“ werden wird.[11]
Nun machte sich die Langenthaler Baufirma unverzüglich an die Arbeit. Der Plan sah vor, dass innerhalb von vier gegen oben zusammenlaufenden armierten Betonsäulen vier Treppen eingebaut werden, die je zu einem Podest führen. Vom vierten Podest sollte eine Wendeltreppe zu einer ersten Plattform führen, von dort eine Metallleiter zur obersten Plattform. Diese befand sich auf 804 Meter über Meer. Eine beschriftete Panoramatafel sollte die Ausflügler über die Berggipfel im Alpenraum orientieren. Dank der ausgesprochen trockenen Witterung im Sommer und Herbst 1911 konnte der Plan innerhalb von wenigen Monaten umgesetzt werden.[12] Bereits im November 1911 nahm der Bauherr den Turm ab.[13] Gegenüber der Oeffentlichkeit fasste die Verkehrskommission den Zweck des Baus folgendermassen zusammen: Der Turm ist in erster Linie ein Ausflugs-, Freizeit und Vergnügungsziel, namentlich für Schulklassen. Dann ist es ein Beobachtungsturm für Natur- und Tierfreunde und vermittelt den Oberaargauern geographische Kenntnisse. Das Bundesamt für Landestopographie braucht den Turm als Triangulationspunkt zweiter Ordnung und in Krisenzeiten steht der dem Militär vor allem zur Luftraumbeobachtung und Luftraumüberwachung zur Verfügung.[14]
Gemäss dem Schlussbericht und der Bauabrechnung vom November 1913 gelang es Rikli und seiner Kommission praktisch alle Einwohnergemeinden des Amtes Aarwangen, zahlreiche Langenthaler Vereine und vor allem auch die in der Region tätigen Banken (Amtsersparniskasse, Bank in Langenthal, Kantonalbank) an den Baukosten zu beteiligen. Der Bau kostete insgesamt Fr. 8695.25. Die Einnahmen betrugen Fr. 8564.20. Das Defizit von Fr. 131.05 übernahm die Einwohnergemeinde. Veranschlagt hatte man gemäss dem „Oberaargauer“ rund Fr. 10'000.— Franken. Der Bau kam also billiger als vorgesehen. Auch wenn die schriftlichen Akten es nicht explizit aussagen, man spürt hinter den ganzen Aktivitäten um den Bau des Hochwachtturmes die initiative Persönlichkeit von August Rikli. Ihm ist es gelungen, die Gemeinden und die Vereine im Amt einzubinden und ihnen die Sehenswürdigkeit auf der Hochwacht als Ausflugsziel und Festort beliebt zu machen. Rikli meisterte auch die Schwierigkeit, die sich bald mit dem dritten Vertragspartner, mit dem Wirt Fritz Maurer ergab. Bereits als dieser den Vertrag abschloss, scheint er nicht auf einem guten finanziellen Polster geruht zu haben. Möglicherweise versprach er sich mit dem künftigen Festbetrieb unterhalb des neuen Turmes die Sanierung seiner Finanzen. Doch noch bevor der Gastwirtschaftsbetrieb unter dem Turm richtig angelaufen war, ging der Wirt Konkurs.[15]
Erster Oberaargauischer Musiktag 1912 auf der Hochwacht
Dennoch begann 1912 der Festbetrieb unter dem Turm. Im Archiv der Musikgesellschaft Madiswil befindet sich ein Flugblatt aus dem Jahre 1912. Es lädt auf Sonntag, den 12. Mai 1912 zu einem Musiktag auf der Hochwacht ein, an dem sich vier Musikgesellschaften beteiligten:
Rohrbach, Madiswil, Lotzwil und Melchnau. Mit der Turmsanierung wurde auch die bestehende Waldbühne erneuert. Sie bot den damals etwa 25-köpfigen Musikcorps genügend Platz. Auf dieser Bühne konzertierten die vier Gesellschaften. Es fällt auf, dass sie anspruchsvolle, klassische Stücke darboten So spielten die Lotzwiler das Finale aus der Oper „Il Travatore“ von Giuseppe Verdi, die Musikgesellschaft Melchnau die Ouverture zu „Regina“von Gioachino Rossini, die Rohrbacher Musikanten erfreuten auch mit einer Ouverture, derjenigen von L. Montagne ebenso die Madiswiler. Sie spielten „Die verlassene Fischersbraut“ von Carel.[16]
Bevor die Musikanten sich auf der Waldbühne präsentierten, marschierten sie spielend auf die Hochwacht. Die Rohrbacher durch den Schmidwald, die Melchnauer kamen auf der Hochwachtstrasse daher und die Lotzwiler und Madiswiler marschierten ab dem Bahnhof Madiswil.
Der Sekretär der Musikgesellschaft Madiswil protokollierte:
„An diesem Morgen wurden von einigen Arbeitswilligen die letzten Anordnungen getroffen. Engros Spedition von Lebkuchen mit zwei Pferden auf die Hochwacht. Daselbst zum Morgengruß und zum Tagesanfang eine kleine Balgerei mit dem Wirt, der aber seine Pfeife bald einziehen mußte. Als die Musik um 12.00 Uhr am Bahnhof anlangte, waren die Lotzwiler bereits marschbereit. Au, herzzerreißend, ja geradezu jämmerlich war die Musik, die wir gemeinsam herausposaunten... das Sprichwort aber sagt: Später wird’s schöner...Bei Lanz Wirth im Ghürn kehrten wir ein und anschließend gings mit Verlust von einigen Schweißtropfen auf die Hochwacht. Punkt 2 Uhr begann daselbst das Programm. Die Musikstücke wurden z. T. sehr gut vorgetragen. Auch die Darbringer (das Service-Personal) machten ihre Sache ausgezeichnet, sie hatten schon um 3 Uhr den ganzen Vorrat abgesetzt...Die Vereine wurden nach Beendigung des Programms entlassen...wie und wann die letzten Festenbummler ihr Tagwerk beendeten, sei dahingestellt...“[17]
Auch die Lokalzeitung „Der Oberaargauer“ berichtete am 14. Mai 1912 fast euphorisch über das Ereignis. Der Korrespondent spricht von einem „riesigen Besuch“, welchen der neue Turm und die konzertierenden Musikgesellschaften bewirkten. Am Nachmittag hätten sich meistens gegen 200 Personen auf den Treppen und auf den Plattformen befunden. „Der Turm hatte am Sonntag eine Belastungsprobe zu bestehen und diese glänzend bestanden“.[18]
Auch wenn dieser 12. Mai der Startschuss für weitere derartige Musiktage hätte werden sollen, blieb es vorerst bei diesem einmaligen Ereignis. Bald kam der erste Weltkrieg. Das führte dazu, dass die gastwirtschaftlichen Aktivitäten unter dem Turm ruhten. Erst nach dem ersten Weltkrieg, nachdem mein Grossvater Fritz Kämpfer-Hirschi die Wirtschaft in Reisiswil und die Sommerwirtschaft auf der Hochwacht übernommen hatte, wurden an den Wochenenden im neuen Berghaus [19] regelmässig Gäste bewirtet und Vereine aus der Umgebung begannen, auf der Hochwacht ihre „Chilbis“ durchzuführen.
Fliegerbeobachtung
Während dem ersten, und vor allem während dem zweiten Weltkrieg diente die Hochwacht militärischen Zwecken. Im zweiten Weltkrieg wurde ein Fliegerbeobachtungsposten eingerichtet. Er war einer der 221 Posten, die sich wie ein riesiges Spinnennetz über das ganze Land ausbreiteten.[20] Die Hochwacht mit ihrer freien Rundsicht bot sich als ein Teil dieses Netzes geradezu an. Der Fliegerbeobachtungs- und Meldedienst war gemäß der Truppenordnung vom 22.Oktober1937 ein Dienstzweig der Fliegertruppe und mit der Mobilmachung wurde er dem Kommando der Flieger- und Flabtruppen unterstellt. Für diesen Dienst wurden nach der Mobilmachung vor allem Hilfsdienstpflichtige beigezogen, später auch Frauen und Gymnasiasten. Der Posten Hochwacht, Reisiswil war während der Kriegsjahre (1939-1944) regelmäßig von Hilfsdienstpflichtigen besetzt, zunächst von solchen aus dem Raum Emmental, später wurden Hilfsdienstpflichtige aus den umliegenden Dörfern rekrutiert. Der Posten bestand nach Reglement aus einem Postenchef, sieben Spähern und aus einem Postenkoch und musste während 24 Stunden besetzt sein[21] .
Für den Posten Hochwacht war kein Postenkoch nötig. Die Soldaten wurden vom Restaurant Traube aus verköstigt und fanden dort auch Unterkunft. Verena Kuert-Kämpfer,[22] die Wirtstochter erinnert sich, wie sie den Spähern auf der Hochwacht oft das Essen brachte und wie der Beherbergungsauftrag für ihren Vater, Wirt Fritz Kämpfer während den Kriegsjahren die wichtigste Einnahmequelle war. Dies hätten auch die Madiswiler Wirte bemerkt. Da aus dem Linksmähderdorf besonders viele Späher rekrutiert worden seien, hätten diese gegen Ende des Krieges dem Reisiswiler Wirt sein Verpflegungsmonopol streitig gemacht, was zu unliebsamen Auseinandersetzungen geführt habe.
Am 8. Februar 1941 erschien im Aargauer Tagblatt eine längere Reportage über den Besuch von Fliegerbeobachtungsposten im Mittelland. Die Namen der einzelnen Posten wurden nicht erwähnt, doch die folgende Schilderung könnte durchaus auf den Posten Hochwacht/Reisiswil zutreffen: Die Besatzung an diesem Posten „geniesst an hellen Tagen einen unvergeßlichen Rundblick über die Heimat. Auch hier klappte alles wie am Schnürchen und die mit ihrer Aufgabe aufs innigste vertrauten Späher bekundeten einen klaren, wachen Geist. Es sind durchs Band weg Männer, die mehr in sich tragen, als man ihnen äußerlich ansieht. Die zum Dienst auf den Fliegerbobachtungsposten eingeübten Hilfsdienstsoldaten aus den jeweils umliegenden Dörfern und Weilern werden für die Dauer der wichtigsten landwirtschaftlichen Arbeiten durch Gymnasiasten aus den Städten abgelöst“.[23] Und in der Nationalzeitung vom 4.Mai 1944 wurde die Aufgabe der Späher auf der Hochwacht folgendermaßen umschrieben: „Entdeckt ein Späher ein fremdes Flugzeug, wird es sofort gemeldet. Die Meldung gelangt an einen Auswerteraum, wo entschieden wird, ob und in welche Richtung unsere Flieger eingesetzt werden sollen Die für den Einsatz bereit gestellten Staffeln sind nach Erhalt des Befehls innert kürzester Zeit in der Luft.“ Im Falle einer Luftraumverletzung erhielten die Auswertungszentralen in der Regel verschiedene Meldungen der einzelnen Beobachtungsposten. Wie der Netzplan zeigt, wurden die Meldungen von der Hochwacht an die Zentrale in Bern übermittelt[24] .
Nachkriegszeit
Die Zeit nach dem zweiten Weltkrieg brachte der Bevölkerung in der Region einen wirtschaftlichen Aufschwung. Zugleich hatte das gemeinsame Ueberstehen der Krisenjahre die Menschen einander näher gebracht und bewusst gemacht, dass regionale Verbundenheit ein wichtiger Wert im menschlichen Leben darstellt. Ausdruck dafür ist das 1946 entstandene Hochwachtlied, welches heute als „Oberaargauerlied“ bekannt ist.
„Uf dr Hochwacht bini gschtande
Zytig scho vor Tag und Tou
Ha verlore abgeschtuunet
Uf mi schöne Heimatgou
I de stille Dörfer nide,
ha ni Glogge ghöre go
d Amsle hei is Lüte gliedet
und du hets mi überno
Heimat, zwüsche Rot und Aar
Du bisch schön und wunderbar.“
Diese Verse stammen von Ernst Balzli. Der Berner Schriftsteller schrieb sie anlässlich des kantonalen Schützenfestes 1946 in Herzogenbuchsee. Balzlis Freund, der Inkwiler Lehrer Willy Burkhardt setzte die Noten dazu und die von Burkhardt geleitete Trachtengruppe Herzogenbuchsee und Umgebung sang das Gedicht erstmals im Rahmen des an diesem Schützenfest aufgeführten Singspiels „Sächs Stube si im Bärnerhus“.[25] Das Lied mit seinen drei Strophen wurde in der Folge von gemischten Oberaargauer Chören immer wieder gesungen und motivierte auch Sängerinnen und Sänger zum eigenen Erleben des Gesungenen auf der Hochwacht. Jedenfalls wurde die Hochwacht in der Nachkriegszeit immer mehr besucht. Mit der Zeit nicht nur mehr von Wanderern und Schulklassen. An Festtagen und Wochenenden häuften sich Besucher mit Motorrädern und Autos. Auch Nichtwanderer wollten die prächtige Aussicht auf das Aaretal, die Jurahöhen und die Alpen geniessen. Die Panoramatafel nennt über 150 Gipfel, die bei klarer Sicht alle bewundert werden können. Der ursprüngliche Zugang zur Hochwacht erfolgte von der Gmeindeweid über den Höheweg, von Südosten her, so wie es Robert Schedler in seinem Oberaargauer Wanderbuch von 1925 beschreibt.[26] Weder dieser Weg noch der Weg von Westen, von der Käserei im Ghürn am Baschiloch vorbei über das Hürn, noch der Weg von der Ghürnhöhe, vorbei am alten Stock des legendären „Ghürn Joggeli“ direkt auf die Hochwacht waren mehr als private Fuss- und Karrwege. Deshalb erwirkten die Grundbesitzer auf der Ghürnseite der Hochwacht für ihre Zufahrtswege von Südwesten ein richterliches Durchfahrtsverbot. Es wurde im Amtsanzeiger vom 7.und 14.Mai1960 publiziert.[27] Doch man beachtete es nicht. Deshalb wurden am Pfingstwochenende 1960 von den Grundeigentümern über 30 Motorfahrzeugführer verzeigt. Darunter auch der Verwalter der nahen Heil- und Pflegeanstalt St. Urban. Dieser war darüber so erbost, dass er mit einem öffentlichen Schreiben drohte, seine Finanzgeschäfte künftig nicht mehr mit den im Kanton Bern ansässigen regionalen Bankinstituten abzuwickeln.[28] Der eskalierende Streit um die Zufahrt zur Hochwacht führte zu einer Eingabe der Kantonspolizei an den Gemeinderat in Langenthal mit der dringenden Empfehlung, ein öffentliches Zugangsrecht zu erwirken.[29] Auf diese Intervention hin machten die Langenthaler Gemeindväter gegen das richterliche Verbot einen Rechtsvorschlag und erklärten das Durchgangsverbot als unwirksam. Dieses wiederum bewog die Grundeigentümer zum Beizug eines Anwaltes. Der Rechtsstreit zog sich hin. 1967 schaltete sich auch Regierungsstatthalter Emil Schaffer ein. In einem langen Aufsatz[30] befürchtet er, dass sich die Hochwacht zunehmend zu einem Rummelplatz entwickelt und so ihr eigentlicher Zweck als Ziel von Wanderungen und als Aussichtspunkt entfremdet werde. Der Hochwachtturm als „der schönste Aussichtspunkt in der Umgebung von Langenthal“ müsse unbedingt als Ort der Ruhe und der Erholung erhalten bleiben. Der Regierungsstatthalter forderte sowohl von der Südwest- wie von der Ostseite die Durchsetzung des Durchfahrtsverbotes. Zugleich aber lud er die Gemeinderäte von Langenthal und Reisiswil ein, den Zugang für den motorisierten Verkehr bei Grossanlässen zu regeln.[31] Auch der Regierungsstatthalter wusste, dass im Tourismus eine neue Zeit angebrochen war, die der Mobilität der Bevölkerung Rechnung tragen musste. Noch dauerte es 10 Jahre, bis sich endlich der Gemeinderat von Reisiswil und der Gemeinderat von Langenthal zusammen mit dem Kanton auf den Bau der heute bestehenden Zufahrtstrasse von Osten her einigen konnten.[32]
Die verschiedenen Begehungen der Langenthaler Behörden im Zusammenhang mit der Verkehrslösung machten auch bewusst, dass der Turm unterhalten werden musste. Zwar hatte sich der armierte Betonbau über Jahrzehnte äusserst robust gezeigt, doch nach 50 Jahren musste eine Gesamtsanierung ins Auge gefasst werden. 1962 bewilligte der Grosse Gemeinderat dafür einen Kredit von rund 40'000.—. Allerdings wurde dabei stets betont, dass über die oberaargauischen Verkehrsvereine Subventionen erwirkt werden sollten, da schliesslich der Turm von allen Bevölkerungskreisen der Region besucht werde.[33] Die Abrechung über die Sanierung zeigt, dass die Gemeinde Langenthal für die Gesamtsanierung schliesslich allein aufgekommen ist.[34]
Die Hochwacht heute
Heute sind die Wirtschaft Traube und das Waldhaus Hochwacht bereits in zweiter Generation im Besitz der Familie Hofer. Der Turm und die rund
250 Quadratmeter Boden auf dem er steht, gehören der Einwohnergemeinde Langenthal. Das Turmgrundstück und der Turm sind sozusagen eine Enklave innerhalb der Parzelle 167 der Gemeinde Reisiswil, die sich in Privatbesitz befindet. Der Langenthaler Gemeinderat liess aufgrund des gesteigerten Sicherheitsbewusstseins nach 1962 den Turm regelmässig untersuchen. 1988 offenbarte eine Tiefenanalyse dass die rostende Armierung zunehmend Risse im Beton bewirkte. Erneut wurde eine Gesamtsanierung nötig. Sie wurde durch die Baufirma Witschi aus Langenthal ausgeführt.[35] Zugleich erneuerte das Bundesamt für Landestopographie den Vermessungspunkt. Es handelt sich nach einem offiziellen Schreiben der Landestopographie um einen „Triangulationspunkt 2. Ordnung der Landesvermessung“.[36]
Seit 1988 besteht auch das neu gebaute Waldhaus mit der bedachten Waldwirtschaft im Freien unter dem Turm. Die alte Wirtschaftshalle war in einer Sturmnacht beschädigt worden und die räumliche Neugestaltung des Gastwirtschaftsbetriebs drängte sich auf. Seither blüht die Hochwacht auf. Vor allem der während den Sommermonaten auf der Hochwacht angebotene Brunch mit Unterhaltung ist äusserst beliebt und zieht viele Gäste auch aus benachbarten Kantonen an.[37] Zudem steht das Waldhaus während der Woche privaten Gesellschaften für Geburtstags-,Jubiläums- und andere Feiern zur Verfügung.
Einen besonderen Volksaufmarsch erlebt die Hochwacht jeweils am letzten Julisonntag anlässlich der seit 1988 durchgeführten Hochwachtpredigt. Sie wird von Beginn weg von der Alphornbläsergruppe Oberaargau organisiert und steht seit einigen Jahren fest im Predigtplan der Kirchgemeinde Langenthal. Hunderte von Besuchern erleben jeweils mit, wie die warmen, zwischen Schwermut und Fröhlichkeit oszillierenden Alphörnklänge Kinder bei der Taufe begleiten. Ist es Zufall oder Fügung, dass 2011 im hundersten Jahr des Bestehens des Hochwachtturmes das fünfzigste Kind im Rahmen einer Hochwachtpredigt getauft werden konnte?
Amerkungen
[1] Restaurant Traube, Reisiswil
[2] Valentin Binggeli. Geographie des Oberaargau, S.12
[3] August Rikli, 1864-1833. Sohn des Rudolf R. von Wangen (1818-1882), Chemiker und Besitzer der Färberei Roth in Wangen. August studierte in Bern Medizin und eröffnete nach der Promotion in Wiedlisbach eine Praxis (1891-1898). 1898 wurde er als Chefarzt an das Spital in Langenthal berufen. Rikli, einem freisinnigen Hause entstammend, wurde aktiv in der Grütlibewegung, trat der Sozialdemokratischen Partei bei und wurde 1908 erster sozialdemokratischer Nationalrat eines Bernischen Landesteils. Er eroberte den Sitz in einer denkwürdigen Wahl. Nach einem heftigen Wahlkampf setze er sich gegen A. Roth, den freisinnigen Fabrikanten und Oberst durch. Die Lokalpresse befürchtete, durch die Wahl Riklis werde der Oberaargau dem Sozialismus ausgeliefert. Rikli war selbst auch Sanitätsoberst und Divisionsarzt in der 3. Division. 1921-1927 war er auch Chefarzt des Roten Kreuzes und in dieser Funktion Oberfeldarzt der Armee. 1927 wurde Rikli Präsident des Verwaltungsrates der Insel-Spital-Kooperation. Rikli war in erster Ehe verheiratet mit Rosa Rikli-Kohlberg, ebenfalls Aerztin am Langenthaler Spital. Eine ausführliche Biographie Riklis fehlt.
[4] Hector Egger, 1880-1956. Studium: bis 1905 (Diplom) Technische Hochschule Stuttgart. 1906 Übernahme der familieneigenen Firma (gegründet 1848) mit Architekturbüro, Bauunternehmung und Zimmerei zu nächst zusammen mit Hans Rebsamen;1912-1943 (Neugründung als AG) alleinige Weiterführung. Eggers Büro wurde zur regional bedeuten den Ausbildungsstätte für Architekten. Die zahlreichen Bauten der Firma Egger in der Region des Oberaargaus sind zunächst vom Eklektizismus, Jugendstil und Heimatstil geprägt, später vom Bauhaus, gefolgt von qualitätvollen Beispielen des Bauens der 40/50er Jahre mit ca. 150 Villen sowie Industriebauten mit dazugehörigen Wohnquartieren für Arbeiter und Angestellte aus Oberaargauer Wirtschaftsunternehmen.
[5] Wachtfeuer (Chutzen). Karte des rekonstruierten Wachtfeuernetzes 31.5.1991; Hans Rychner: Die Hochwachten der alten Eidgenossenschaft als militärische Nachrichtenübermittler, Frauenfeld 1942, Sonderdruck aus der „schweizerischen Monatsschrift für Offiziere aller Waffen“.
[6] August Rikli und Hector Egger waren im Villenquartier auf dem Hinterberg in Langenthal Nachbarn.
[7] Flugblatt vom 10. März 1911. Archiv der Einwohnergemeinde. Dossier Hochwacht. Unpag.
[8] Verband emmenthal.-oberaarg. Verkehrsvereine an die Einwohnergemeinde Langenthal, 20. April 1909, Unpag.
[9] Vertrag vom 19. Juli 1911. Archiv der Einwohnergemeinde Langenthal. Dossier Hochwacht. Unpag.
[10] Verkehrskommission Langenthal an Behörden, Kooperationen und Vereine. Brief vom 21. Juli 1911. Archiv Einwohnergemeinde. Dossier Hochwacht. Unpag.
[11] Der „Oberaargauer“, Dienstag, den 25. Juli 1911, Archiv Merkur
[12] Von Mai bis November 1911 fiel in weiten Teilen Europas kein Regen. Es herrschte grosse Trockenheit.
[13] Schlussbericht vom November 1913. Dieser datiert die Abnahme auf den 8. November 1911. Archiv der Einwohnergemeinde. Dossier Hochwacht. Unpag.
[14] Akten Gemeinde Langenthal, Vorlage zu der Sanierung 1988, S.3
[15] Vgl. Schlussbericht
[16] 100 Jahre Musikgesellschaft Madiswil, 1891-1991, Langenthal, 1991, S.44
[17] Ebd. S.44
[18] Der „Oberaargauer“, Dienstag, den 14. Mai 1912, Archiv Druckerei Merkur
[19] Aufgrund der Notiz einer Karte vom 17.5.1917, die mein Grossvater von Reisiswil in den Militärdienst erhielt, hatte dieser die Wirtschaft zu diesem Zeitpunkt bereits übernommen und das Berghaus war neu erstellt wie die Karte aus dem Jahre 1915 zeigt.
[20] Paul Jenny: Geschichte des Fliegerbeobachtuns- und Meldedienstes 1923-1990, Basel 1997, S.62 (=Jenny, Fliegerbeobachtung)
[21] Jenny: Fliegerbeobachtung, S. 89
[22] Verena Kuert-Kämpfer, Langenhal, geb. 1921
[23] Jenny Fliegerbeobachtung, S. 238
[24] Werner Rutschmann: Die Schweizer Flieger- und Fliegerabwehrtruppen 1939-1945. Aufträge und Einsatz, S. 85, Abb. 20
[25] Vgl. H.R.Salvisberg: Das Oberaargauerlied, Jahrbuch des Oberaargau, 1989, S.69-72
[26] Robert Schedler: Oberaargau und Unteremmental, Wanderbuch, 1925, S.96
[27] Vgl. Anzeiger für das Amt Aarwangen vom 7. und vom 14. Mai 1960
[28] Dies ist einem Brief der Kantonspolizei an die Gemeindeverwaltung vom 9. Juni 1960 zu entnehmen.
[29] Vgl. den unter Anmerkung 26 erwähnten Brief.
[30] Emil Schaffer: Erhaltung der Hochwacht als Wanderziel. Regierungsstatthalteramt Aarwangen, 17. Juli 1967
[31] Ebd.
[32] Auszug aus dem Protokoll des Einwohnergemeinderats von Langenthal, 9. Januar 1978
[33] Auszug aus dem Protokoll des Einwohnergemeinderates von Langenthal, 15. Januar 1962
[34] Akten Grosser Gemeindrat vom 28. September 1964, Abrechung Renovation Hochwachtrum.
[35] Sanierungskonzept Firma Witschi, Dokument auf der Bauverwaltung Langenthal, 1988
[36] Vermessungspunkt 1128.421; vgl. Schreiben vom Bundesamt für Landestopographie vom 28.11.1987, Gemeindearchiv Langenthal, Dossier Hochwacht.
[37] www.waldhaus-hochwacht.ch